Der Hunger

Veröffentlicht auf von Norberts

 Der Hunger Frankfurt 12/2008 Neulich wurde ich wach und hatte direkt Verspätung.
Die Weckzeit war exakt die Zeit, zu der ich hätte das Haus
verlassen wollen.
Nun macht ja nix, dachte ich mir, duschen, rasieren und los.
Ein kurzer Gedanke an Frühstück, ich bin schon im Auto
und suche direkt nach Riegeln oder so in den Fächern.
Ich habe einen Termin beim Zahnarzt und da kommt
Essen kurz vorher nicht so gut, Pizza mit Knoblauch
schon mal gar nicht. Alles sei in bester Ordnung sagt
der Doktor, aber mein Magen ist da ganz anderer Meinung.
Doch so schaffe ich es noch rechtzeitig zu dem heutigen
Seminar meines Arbeitgebers. Es seien drei Pausen
eingeplant, sagt der Dozent und ich verschiebe
meinen Hunger auf die Zeit, die ich dann dreimal haben werde.
Der erste Abschnitt des Vortrages geht über zwei Stunden.
So nach dreißig Minuten, es geht wohl über Betriebswirtschaft
und Kundengewinnung, sehe ich nur noch Riesenschnitzel
und Kübel voller Smarties vor mir. Dabei fällt mir der
Name des Riegels ein, den man angeblich essen soll,
wenn es wieder mal länger dauert. Auch der Joghurt,
der in der Ecke noch ein Paar Ceralien hat, scheint mir
momentan sehr verlockend. Ich beginne mich zu hassen.
Keine Tasche hat was zu bieten für mich, ich suche
meine Verstecke ab wie ein Fuchs die seinen im Winter,
aber reineweg nix, gar nix. Wie kann der Dozent nur
den Mund aufmachen ohne das er sich da was reinsteckt?
Da werde ich von ihm etwas gefragt und habe eine
feuchte Aussprache, weil ich von ein paar
leckeren Tappas am träumen bin. Endlich ist
die erste Pause erreicht. Die Kaffee-Küche ist
merkwürdig leer. Ich stelle fest, das die meisten
Teilnehmer unten vor der Tür im kalten
Dezemberwind ihren Hunger mit einer
oder mehreren Zigaretten betäuben.
Oben in der Kaffee-Küche finde ich
nur Wasser. Bekommt man da nicht noch
mehr Hunger wie die Schweine die auf Süßstoff sind,
aber immer noch auf Zucker warten?
Also trinke ich Wasser und bekomme
noch mehr Hunger davon. Den Dozenten s
telle ich mir filetiert vor, in leckere Scheiben
geschnitten, cross frittiert. Bacon and
scrambeld eggs und braunen Toast dazu.
Der Dozent, der umittelbar neben mir steht
und auch Wasser trinkt, meint, das könne
man auch mit den Kunden machen.
Oh je, habe ich etwa schon laut gedacht?
Ich war früher im Food-Bereich tätig,
sagt mein Nachbar als der Vortrag wieder weiter geht.
Und ich antworte: Was glaubst du wovon ich grad träume?
Dann kommt auch die zweite Pause.
Klares Wasser, schön kalt. Kann ich es
nicht dem Dozenten ins Gesicht schütten?
Ich fange an agressiv zu werden.
Diese Firma, nee. Wir würden mit den
neuen Strategien alle reich werden,
sagt der Dozent und mit den neuen
Taktiken sei auch der Kunde bereit, mehr zu zahlen.
Mir als Erstes ein Essen, denke ich und verziehe
das Gesicht. In der nächsten Stunde steigt
mein Groll weiter. Also stelle ich agressive Fragen,
drehe die Worte vor und zurück und wunder mich,
woher meine Wut kommt.
Aus dem Bauch sicherlich nicht, denn da ist ja nix.
Ich habe eine Frage und möchte sie bildhaft umschreiben,
es passt ein Bild aus der Küche, von der Suppe,
die perfekt gelungen, dem Brot, was hervorragend
gelungen, aber ich halte mich an Fachlichem fest
weil ich den Duft der Suppe, dem Geruch nach
frischem Brot und Räucherfisch nicht mehr aushalte.
Warum ist der Dozent nur so mager und welche der Frauen,
die hier zuhören, fröhnen der Fleischeslust?
Nein, nicht der, sondern dem Verlangen nach Würstchen,
Wellfleisch, Buletten und dergleichen.
Das ist heute eben ein Diät-Tag beruhigt mich mein ich,
aber ich hasse diese Firma. Arbeiten, lernen, Vorträge hören,
aber man verhungert dabei. Nochmals suche ich alle Taschen ab,
wieder nix. Irgendwann ist dann der Zauber zu Ende
und ich denke sofort an meinen Vater.
Wenn der früher nach Hause kam, hatte meine Mutter
das Essen schon auf dem Tisch. Auch heute noch ließen
mich ein paar alte Tanten erstmal fürstlich spachteln,
wenn ich auch nur auf einen Sprung bei ihnen vorbei kam.
Warum war mir eigentlich so übel? War das die Strafe,
weil ich mir den Dozenten filetiert vorgestellt hatte?
Nein, auf mich wartete kein Essen zu Hause.
Wir wollten uns zum einkaufen in der Stadt treffen.
Für einen Snack von der Tankstelle war die Zeit zu knapp,
außerdem gab es in der Vorweihnachtszeit überall
Buden mit Essbarem. Musste dieser Einkauf in
der übervollen Innenstadt wirklich sein? Wir trafen uns an
einer Straßenbahn-Haltestelle. Ich sah meine Frau
schon von weitem. Die Türen der Tram öffneten sich
und das Gebimmel und Gedudel aus den Weihnachtsbuden
drang an mein Ohr. Aber was noch schlimmer war,
es roch nach Essen. Bratfisch und Kartoffelpuffer
hatte ich in der Nase, eine Wolke Glühwein kam
vom Glühwein-Stand gleich hinterher oder
kam sie von den volltrunkenen Gestallten,
die sich an den Stehtischen fest hielten?
Hast du schon was gegessen Schatz, fragte mich meine Frau
und ich nickte undeutlich mit dem Kopf.
Sie müsse unbedingt ein Paar Wiener haben, sagte sie
und schleifte mich Richtung Bratengrill hinter sich her.
Mir wäre jetzt lieber gewesen, sie wäre mit einem Paar
echten Österreichern wieder gekommen,
das Knack und Schmatz vom zarten Saitling,
auch Dünndarm genannt meiner Liebsten
löste bei mir einen Würgereiz aus,
die Sauggeräusche des Senfspenders nicht minder.
Mehrere Stunden daran anschließend verbrachten
wir mit Garderoben-Anprobe, jeder Klamotten-Laden war mir lieber
als der Gedanke an Essen. Und ich war der
aufmerksamste Beobachter den meine Frau je dabei gehabt hatte.
Als ich am Abend meinen krampfenden Magen
mit einem Cognag beruhigt hatte, ging ich hungrig zu Bett.
Den Geruch eines vor längerer Zeit befüllten Kühlschranks
wollte ich mir nicht antun. Auf dem Kopfkissen beschlich
mich der Gedanke an ein üppiges Frühstück,
aber als der Wecker am nächsten Morgen klingelte,
war es dafür bereits wieder zu spät ...

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