Canada oneway

Veröffentlicht auf von Norberts

Canada oneway Ratingen 19.07.1987


Gegen vier Uhr morgens wachte er auf, verließ seinen Camper und wusch sich im Bach. Danach joggte er durch den Wald rund um den Platz auf dem sie mit dem Campingbus die Nacht verbracht hatten. An seinen Unterschenkel hatte er ein Fangmesser geschnallt, die Schultern schützten eine Trainingsjacke. Auf eine kurze Hose wollte er jedoch nicht verzichten, was kurios aussah und Mücken und Moskitos geradezu einlud. Im ersten Jahr hatte er noch jede Menge Stiche kassiert, aber jetzt waren seine Beine braun, hart, durchtrainiert, das schien die Tiere abzuhalten.

Er war jetzt das vierte Jahr hier in Canada und besaß immer noch seinen alten Pass aus Europa. Im Campingbus schlief seine Ex-Frau und seine Tochter. Im Grunde war es immer noch „seine Frau“, sie hatten sich schließlich getrennt als er zum Arbeiten nach Canada gegangen war. Sie dachte wohl, so schneller wieder jemanden zu finden, jedoch kannte er ihren Job in einer engen, miefigen Kammer, einem Werksbüro irgendwo in einer kleinen Stadt in Europa. Da verlief sich niemand hin, da kam keiner mit dem sie hätte etwas anfangen können. Dann war sie allein nach einem ganzen Tag Arbeit, sie mochte ruhig Überstunden machen da blieb weder Zeit noch Kraft um abends auf den Markt zu gehen. Und im Hintergrund die gemeinsame Tochter, da musste sie schon aufpassen, wen sie mit heim brachte.

Auf eine Anzeige nach Canada zu kommen hatte er sich gemeldet, Spezialisten für Auslandsaufenthalt gesucht. Mehr aus Spaß hatte er geschrieben und promt Antwort erhalten. Am Jahresende, er hatte gerade noch Weihnachten zu Hause verbringen dürfen, stand er auf dem Flughafen Frankfurt. Toronto 14:55 Uhr stand auf der Anzeigetafel, das Taxi brachte Frau und Tochter wieder nach Hause und nach ein paar Stunden Flug betrat er canadischen Boden. Die Euphorie, die man später in diversen TV-Sendungen zum Thema zu sehen bekam, die fehlte. Irgendwie war es für ihn ganz anders diesmal, er hatte das Gefühl an der Reisekrankheit zu leiden oder plötzlich Seekrank geworden zu sein. Als Tourist nach China, Ungarn, Chile oder Korea, oder abseits der großen Flugrouten mit einem kleinen Schulterdecker über den Urwald zu fliegen, das machte ihm nichts aus. Diese Abenteuer waren lange geplant, gut organisiert und nicht von langer Dauer. Aber dieses Abenteuer sollte länger dauern, womöglich sein Alltag werden, sein normales Leben. Mit ihm waren canadische Gis ausgestiegen die von ihren Angehörigen mit lautem Hallo empfangen wurden. Indianer saßen auf dem Boden, boten Glasperlenketten und andere handwerkliche Dinge an. Einen Vertreter seiner neuen Company konnte er nicht erblicken, wo sollte er auch suchen, in diesen Airport hätte der Marktplatz von daheim dreimal rein gepasst. Mit seiner Checkkarte telefonierte er mit der Company, man sagte ihm, Mister Cook sei auf dem Airport seinetwegen. Suchen also zwecklos, er nahm ein Taxi. Den Fahrer verstand er nicht, der sprach Dialekt und er selbst nur Touristen-Englisch plus dem Business-Kurs kurz vor Abreise. Unterwegs musste er seine Vorstellungen vom freien Leben revidieren. Es war Winter wie zu Hause, aber hier war es richtig grimmig kalt. Die Stadt bot genau so einen trostlosen Anblick wie seine Heimatstadt, dunkel und grau, die Straßenlaternen hatten einen schweren Stand in dem dichten Schneetreiben. Für ihn wurde die Heizung in seinem neuen Zuhause zum Lieblingsplatz. So schnell wollte er nun doch nicht in Blockhütte oder Wohnwagen hausen, auch wenn das hier durchaus üblich war und von Gastarbeitern wie er einer war oft praktiziert wurde. Das Taxi fuhr ihn zu seiner neuen Firma und er bezahlte mit der Checkkarte. Er hatte den Eindruck, nur Numismatiker kennen in diesem Land Bargeld, alle anderen wissen nicht mal wie half und quater-Cent aussehen. Was hier die Brieftaschen füllte, waren die enorm vielen Plastikkarten, die für alles Rabatt und Bonus-Punkte versprachen. In der Firma wurde er freundlich empfangen, es musste die halbe Company sein, die ihm da freundlich zunickte. Man sprach sogar deutsch, inzwischen war auch Mr.Cook vom Airport zurück. Die Arbeitsräume entsprachen internationalem Standard, seine Arbeit würde von ihm keine großen Umstellungen verlangen. Überall war es hell und freundlich, das konnte auch am Schnee liegen, der draußen vor den Fenstern lag. Man wollte wissen ob er mit der Bezahlung einverstanden sei, aber wenn sie nicht gut zahlen würde, hätte er ja nicht den Flieger genommen. Dann wurden ihm die Damen des Hauses vorgestellt, eine recht muntere Truppe jeglicher Ethnie, aber es war keine dabei in die er sich hätte vergaffen können, die Arbeit in der Fabrik machte aus den Damen nicht automatisch Moddels. Bei den Kollegen, die auch irgendwann aus Deutschland gekommen waren, war ein bärtiger Ostfriese dabei, den er ganz sympathisch fand, Mit dem mal reden, ausfragen wollte er ihn, es gab doch noch so viele offene Fragen. Um wieder in sein Quartier kommen zu können, musste er erneut ein Taxi bestellen. Hier lief alles auf und über die Straße, selbst im Winter unter der Gefahr bis zum Dach einzuschneien. So schnell wie möglich wollte er sich so einen großen amerikanischen Schlitten zu legen, Taxi kostete hier nicht viel, aber er hatte immer das Gefühl betrogen worden zu sein. An einem Kiosk kaufte er sich einen Stadtplan um sich die Lage der Straßen einzuprägen. Wo sich sein Quartier befand, hatte er sich schnell merken können, ein Hochhaus in Form eines Kühlturms war in seiner Nähe. Bis zum Frühjahr wollte er mit dem Auto jedoch warten, denn fahren war in dem hohen Schnee echt Arbeit.

Die nächsten Wochen gingen schon ganz in der neuen Arbeit auf. Er hatte einen Iren gefunden, der in dem selben Unternehmen arbeitete und ihn immer mitnahm. Nachtschicht brauchten sie hier nicht zu machen. Auf seine Frage lachten sie und meinten, hier würden nur gewisse Damen in der Stadt Nachtschicht machen müssen. Er war darüber sehr froh, denn der Frost wurde nachts noch stärker.

Als der Winter vorbei war, hatte er sich gut eingearbeitet. Auch das Auto vor seiner Tür gehorchte auf sein Kommando, etwas anderes machte ihm Probleme, das war der Frühling und das er hier war ohne Frau. Die Telefongesellschaft verdiente sich mit ihm eine goldene Nase, denn er telefonierte oft nach Hause. Noch gab es kein Public-Internet oder ein Programm wo man schreiben, reden und sich sehen konnte. Sie stellte ihm Fragen nach seinem Sexleben, machte anzügliche Bemerkungen so das er sich schwor, seine Telefonitis zu bekämpfen und sich seine viele Energie für die Weite der Natur aufzuheben. Es wurde warm draußen und er konnte Rad fahren, joggen oder einfach lange spazieren gehen. Er glaubte er habe ein Ventil gefunden, jedoch nach einem halben Jahr hatte er ein Verhältnis mit einem asiatischen Mädchen. Sie war mit ihren Eltern aus Korea gekommen. Ihre Familie hatte einen kleinen Laden, der Vater betrieb eine Tofurei. Sie war in seinem Alter, also kein Mädchen mehr und sie lernten beide Englisch. Wenn er dann in der Küche stand und das kochte was er unter chinesischer Küche verstand, war er für sie ein nicht enden-wollender Grund sich zu amüsieren. Wenn sie zusammen ins Bett gingen konnte draußen Winter sein oder nicht, sie hatten es dabei vergessen. Verborgene Kräfte wurden frei, er hasste Begriffe wie Treue oder Zölibat, er hatte seinen Trieb einfach ignoriert, aber bei ihr brach es aus ihm wieder hervor. Wie konnte er nur so ein Tier sein, dieses animalische Prinzip ließ sich nur begrenzt ausklammern, manchmal dachte er, er brauche es einfach nur zu vergessen aber es kam immer wieder wie Blitz und Donner. Er verstieg sich sogar in Frauenhaß, alle Frauen dieser Welt, doch sie zeigte ihm das er doch nicht ein so großer Frauenhasser war. Am liebsten waren sie draußen, vergnügten sich auf einer Decke im Freien, denn ob Hotel oder Wohnung, die Häuser waren hier alle sehr hellhörig.

Einmal lud er den Ostfriesen zu sich ein und staunte, als der vor seiner Tür stand. Er brachte eine Hong-Kong-Chinesin mit, sie hatten also den gleichen Geschmack. Die Frauen verstanden sich prima und so konnten die Männer ungestört über die Arbeit plaudern. Er hatte sich Notizen gemacht und konnte endlich dringende Fragen stellen. Die Unsicherheit machte ihm oft zu schaffen, da war es doch gut sich mal in der Muttersprache schlau zu machen. Dann besprachen sie die Finanzen. Hier gab es viele Dinge zu beachten, schön wenn man vorher wusste worauf es ankam. Er hatte den Eindruck das man hier noch viel mehr verdienen konnte, wenn man nur wollte. Vielleicht musste man die Firma wechseln, der Vertrag lief ja nur auf drei Jahre. Bei diesen Treffen wurde es meist spät und er und sein Mädchen hassten hinterher die verqualmten Zimmer, die Batterien leerer Flaschen die sie nur für den Besuch gekauft hatten und jetzt überall auf dem Boden lagen. Warum nicht mal intellektuell, mit wirklich guter Musik, guten Gesprächen und Häppchen, eventuell einen leckeren Cocktail dazu. Da konnte man wohl genau so wenig machen wie gegen den geschmacklosen, aber allgegenwärtigen Fastfood.

Im Sommer des zweiten Jahres kam seine Tochter herüber. Sie war begeistert allein fliegen zu dürfen. Von der großen Stadt wollte sie nichts wissen, sie hatte eben ihre eigene Vorstellung von Canada. Er nahm frei, sie mieteten einen Pickup, ein Boot und ein Blockhaus. Er zeigte ihr was er draußen im Wald gelernt hatte, sie angelten Lachse und nach einem Tag auf Pferden hatte beide müde Knochen. Er hatte fast vergessen das noch in der Stadt sein koreanisches Mädchen wartete, so sehr nahm ihn der Besuch seiner Tochter in Beschlag. Natürlich war er stolz seiner Tochter sein Wissen um outback und Wildnis zeigen zu können und ihr diesen Urlaub zu ermöglichen. Das er das Mädchen hatte, bekam sie sofort mit, dafür hatte sie ein Näschen. Im nächsten Jahr wollte sie mit ihrer Mutter herüber kommen.

Die Zwischenzeit verging mit Arbeit. Der Winter kam, es ließ sich kehren und Schnee schippen, jedoch das es Winter war, war nicht zu verleugnen. Hier war man für ein paar Monate gefangen, der Luxus von Wärme und Licht musste bezahlt werden. Mit seinen Finanzen kam er ganz gut zurecht, dann kam der Sommer, aber sie kamen nicht, so hatte er den Sommer für sich und seine neue Liebe.

In seiner freien Zeit fuhr er mit seinem Auto nach Amerika, flog mit seinen Kollegen nach Mexiko und schrieb von dort Karten nach Hause vom Betriebsausflug. Dann flog er mit seiner neuen Liebe nach Korea.

Seine Aufzeichnungen aus der Zeit hat er nie ganz geschafft aufzuarbeiten. Das war einfach zu viel. Hatte er früher als Tourist nur die Prachtstraßen gesehen, konnte er mit dem Mädchen sechs Wochen in einer Sippe leben, deren Tagesablauf so geregelt war, als ob der Computer ein Butterfaß und das Büro im Haus der Ahnentempel sei. Vieles hatte sich unbewusst in den Familien erhalten, was offiziell schon längst als alter Hut verschrien war. Geduldig wurde ihm übersetzt, oft hatten sie aber auch nur ein Lächeln für ihn, es war wie überall, man ließ sich nicht gern in die Karten gucken. Daran änderte auch sein Mädchen nichts.

In diesem Jahr nun war seine Tochter wiedergekommen. Sie hatte seine Exfrau mitgebracht. Er machte sich Sorgen um sein koreanisches Mädchen, während er mit ihnen durch die Wälder fuhr. Er hatte ihr alles erzählt, bevor er seine Ex-Frau und die Tochter vom Flughafen abholte. Sie blieb hart wie Stein, völlig versteinert aber immer noch lieb lächelnd. Er stellte sich vor die Rollen wären vertauscht und er hätte seiner Ex-Frau vom Besuch ihrer Vorgängerin erzählt. Ein paar Schläge, Tritte, bei der konnte er nie wissen was kam, urplötzlich wie der Ausbruch des Vesuv. Was sollte er machen? Seine Ex am Airport stehen lassen und nur mit der Tochter herum fahren? Nächstes Jahr würde er den canadischen Pass bekommen und vielleicht für immer hier bleiben. Seine Tochter hatte ausgeschlafen, kam aus dem Campingbus und wusch sich nackt an dem Bach wo er sich auch vorhin gewaschen hatte. Obwohl ihn das Bild faszinierte, drehte er sich weg, sie war verdammt erwachsen geworden. Hatte es bei ihr in der Schule nicht so geklappt wie er sich das vorgestellt hatte, bekam sie doch einen Superabschluß am Ende und brauchte sich für ihren Weg ins Business keine Sorgen zu machen. Nach seinem Weggang hatte seine Ex-Frau besonders viel in die Ausbildung der Tochter investiert und er fragte sich, warum sich die Beiden vorher zu Hause nur so hinter seinem Rücken versteckt hatten. Alles war auf ihn abgewälzt worden, die Damen waren mit der Zeit unheimlich unselbstständig geworden, jedenfalls so lange er noch zu Hause war. Seine Tochter hatte sich inzwischen einen Trainingsanzug übergezogen und wollte ihn unbedingt mit zum joggen nehmen. Er hatte heute schon seinen Weg hinter sich, aber sie hatte eine unnachahmliche Art um etwas zu bitten. Manchmal bekam er Angst davor, besonders als er noch für sie verantwortlich war. Auf der anderen Seite kannte sie ihren Paps genau, mochte er auch aussehen wie ein schlafendes Häschen, wenn man ihn zu sehr bedrängte konnte er sich ziemlich energisch Luft verschaffen. Bald war der Urlaub zu Ende, eine Extra-Runde mit ihr zu laufen konnte er durchaus verkraften. Unaufhörlich redete sie dabei auf ihn ein. Im Gegensatz dazu die Schönheit der Natur, der herrliche Weg, der sich im zick-zack durch den Wald schlängelte. Er fand ihr Gerede abstoßend, er mochte es nicht länger mit anhören müssen. Vielleicht war es auch nur der Geruch der Klein-Kinder-Kacke, die ihm da in die Nase kroch. Sie blieben stehen um zu verschnaufen. Plötzlich elektrisierte ihn etwas, ja es wurde aufregend und interessant. Sie hatte seine Ex-Frau verkuppelt, ja man konnte sagen das sie bald wieder unter der Haube war. Wie das seine Tochter geschafft hatte, den Zahnarzt für ihre Mutter zu interessieren, war ihm ein Rätsel. Er fing an wütend zu werden. Er musste sich eingestehen, das er neidisch war. Ein paar hundert Dollar schickte er ihr jeden Monat nach Haus, musste er auch, Unterhalt oder so was und sie kaufte sich ne neue Aussteuer für diesen Heini vom Zahnlabor. Er hatte auf ein mal das Gefühl, daß sie womöglich die ganze Zeit an seiner Seite nur gewartet.. aber es wollte ja seine Tochter gewesen sein die da vermittelt hatte. So viel hatte er davon erfahren aber was genaues wusste er immer noch nicht.

Vor seinem inneren Auge tauchten Bilder auf von der Heimat, die er eigentlich nie hatte, waren es doch alles nur Orte wo er einige Jahre geblieben war. Dann zog er meist wieder weiter, meist wegen der Arbeit. Seine Ex-Frau war in der Nähe eines Flughafens hängen geblieben, wahrscheinlich reichte es ihr für ihr Fernweh. Sie wählten ihre Wohnungen mal größer, dann wieder kleiner und bescheidener, je nach Einkommen. Seine Möbel waren dabei auf der Strecke geblieben. Nur die wichtigsten Bücher hatte er nach Canada nachkommen lassen. Durch die Umzieherei gingen viele Dinge verloren und er hatte auf einmal das Gefühl schon sehr viel verloren zu haben.

Es war das letzte Mal das er seine Ex-Frau zu sehen bekam. Sie rief mal aus Californien an, als sie mit ihrem neuen Schatz zum Surfen dort war und die Tochter kam nur noch allein, wenn sie dazu noch Zeit hatte. Vielleicht hatte sie auch einen Freund, die Briefe kamen nicht mehr so oft. Das Mädchen aus Korea heiratete einen Koreaner, er bekam seinen canadischen Pass und heiratete schließlich drei Jahre später eine blonde Polin.

 

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